Lebensgefährten

Geschwister sucht man sich nicht aus, sie passieren (wenn man Glück hat), und aus meiner Sicht sind sie das absolut Beste, das einem passieren kann. Ich kann mir mein Leben ohne meine zwei Brüder nicht ansatzweise vorstellen. Und obwohl ich die große Schwester bin, gab es keinen Tag, keine Minute in meinem Leben, in der ich es mir ohne einen der beiden gewünscht hätte. Genau wie unser Familiesein ist auch unser Geschwistersein vielleicht schon an der ein oder anderen Stelle anders, weil Mari das Down-Syndrom hat. Hätte er es nicht, wären wir nun wahrscheinlich alle drei so richtig erwachsen und würden auf sehr eigenen Beinen in sehr eigenen Leben stehen. Wir würden uns hoffentlich genauso lieb haben und hoffentlich genauso gerne Zeit miteinander verbringen, aber dennoch wäre einiges anders. Unsere Eltern würden dann jetzt ein Leben führen, wie es andere Eltern um die 60 führen. Eben auch auf sehr eigenen Beinen stehen. Losgelöst vom Elternsein, mehr wieder nur die beiden. Sie hätten vielleicht Sorgen wie alle Eltern sie ein Leben lang um ihre Kinder haben. Aber sie würden vermutlich sorgloser in die Zukunft blicken, weil wir ja alle aus dem Gröbsten raus sind, wie man so schön sagt. Nun gucke ich mir dieses Bild dort oben an und muss darüber schmunzeln, wie erwachsen und dennoch kindlich wir alle drei aussehen. Drei erwachsene Geschwister, bei denen man auf diesem Bild als Fremder auf den ersten Blick vielleicht noch nicht einmal erkennen könnte, wer am ältesten ist. Für mich sind meine Brüder die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Weil sie für immer sind. Lebensgefährten. Und weil ich mit ihnen die wichtigste und besonderste Zeit meines Lebens verbracht, geteilt und verarbeitet habe. Bis heute. Es ist verrückt, aber vor allem, wenn ich mir aktuelle Bilder von uns ansehe, fällt es mir auf: wir sind tatsächlich erwachsen geworden - wann ist das passiert? Mama und Papa haben drei erwachsene Kinder.

Je erwachsener man wird umso weiter rückt die Kindheit in die Ferne und für Menschen, die wie ich sehr, vielleicht auch zu sehr, an der Vergangenheit hängen, kann das sehr schmerzhaft sein. Erwachsenwerden war für mich schon immer ein Prozess, der mich vor allem das Loslassen lehrte und immer noch lehrt. Momente loslassen, Zustände loslassen, gedachte Unveränderlichkeiten loslassen. Als große Schwester zu beobachten, wie meine kleinen Brüder erwachsen und immer selbstständiger werden ist gewöhnungsbedürftig. Es ist wunderbar und großartig und ich bin so unendlich stolz auf alles, was sie erreicht haben und würde mir am liebsten die ganze Wohnung mit Fotos von ihnen tapezieren, weil sie immer schöner und schöner werden. Aber mich durchfährt gleichzeitig ein ohnmachtartiger Schlag, wenn Tilman mir von seinen Studiumsplänen in Berlin erzählt. Und auch beim Gedanken daran, dass Mari im Sommer mit der Schule fertig ist und arbeiten gehen wird. Was habe ich schon bei seinem 10er Abschluss an der alten Schule vor 3 Jahren Rotz und Wasser geheult. Haben wir uns nicht gestern noch zu dritt zwei Zimmer geteilt? Ich würde sagen, das alles sind Dinge, die auch so wären, wenn Mari 46 Chromosomen hätte. Aber ein bisschen mehr Besorgtsein haben wir durch das Chromosom mehr glaube ich doch. Besorgtsein, weil man, wenn man erwachsen wird, zwangsläufig mehr und mehr in die Zukunft denkt und diese nicht so klar zu skizzieren ist, wie das vielleicht bei anderen Geschwistern in unserem Alter der Fall ist. Marian wird mit großer Wahrscheinlichkeit nie alleine nach Berlin ziehen. Oder alleine durch Thailand reisen ohne sich regelmäßig zu melden. Vielleicht wird er auch niemals heiraten und eine Familie gründen. Solche Vorstellungen und Wünsche lässt man wahrscheinlich schneller vorüber ziehen, wenn man einen Bruder mit einer Behinderung hat. Man lässt sie los und macht Platz für viel wichtigere Vorstellungen und Wünsche.

Mit dem Zusammen-erwachsen-werden kommen vor allem bei mir als großer Schwester schon ab und zu Gedanken oder Fragen danach auf, was wohl mal sein wird. Zum Beispiel, wenn Mama und Papa mal nicht mehr da sind. Als ich vor ein paar Wochen, ausgelöst durch ein spannendes Gespräch mit einer jungen Frau, die sogar zwei jüngere Geschwister mit Down-Syndrom hat, einige Tage lang darüber nachdachte, welche Zukunftsgedanken bezüglich Mari und uns als Geschwister mich beschäftigen, sind mir vor allem ganz viele positive Dinge ein- bzw. aufgefallen, für die ich total dankbar bin. Dazu gehört zum Beispiel, dass mein Lebensmittelpunkt nur eine halbe Stunde Zug- oder Autofahrt von meiner Familie entfernt liegt. Das Glücksgefühl darüber, dass ich innerhalb einer halben Stunde bei den Menschen sein kann, die mir am allerwichtigsten sind, ist auch ein Grund dafür, warum mich mein Bauchgefühl bisher in noch keine weiter entfernte Stadt als Bielefeld gezogen hat. Und auch bei Zukunftsgedanken darüber, was wäre, wenn Mama und/oder Papa etwas zustoßen würde, ist das eine mich total erleichternde Vorstellung. Ich merke bei diesen Überlegungen, dass Erwachsensein also auch Vorteile hat, denn wir könnten nun alleine für uns sorgen und wären auf keine Ämter mehr angewiesen, was einem einen riesengroßen Stein vom Herzen fallen lässt.

In diesen Momenten, in denen ich über die Zukunft nachdenke, bemerke ich neben der ganz natürlichen Angst vor der Ungewissheit vor allem ganz ganz viel Glück darüber, dass wir Geschwister uns haben. Mari wird niemals alleine sein, und wir werden es auch nicht. Lebensgefährten. Was auch immer passieren wird, Mari wird immer einen Platz bei Tilman und mir haben, wir würden beide bedingungslos auf alles Hab und Gut verzichten um für ihn da sein zu können, sofern auch er das möchte. Und ich bin unendlich froh darüber, dass ich Tilman an meiner Seite habe, um diese Zukunft mit ihm gemeinsam planen und irgendwann zusammen mit ihm betreten zu können. Niemals allein. Weil Geschwister Lebensgefährten sind, die für immer bleiben.

Auf's Geschwistersein!

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